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1893 bis 1923

Die Entwicklung der Anstalt Grafenberg

ein gezeichneter Aetailplan der Anstalt Grafenberg
Provinz Heil- und Pflegeanstalt Grafenberg
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Unter der Leitung von Josef Peretti

Ein Skandal im Jahr 1895 löste einen Modernisierungsschub in der psychiatrischen Versorgung der Rheinprovinz aus. Ein Flugblatt beschuldigte das Alexianer Krankenhaus in Aachen, einen gesunden Mann wider Willen festzuhalten. Der nachfolgende Prozess führte zur Schließung der Anstalt und lenkte den Blick der Öffentlichkeit auf das gesamte rheinische "Irrenwesen". Die kritische Bestandsaufnahme, zu der sich die Provinzialverwaltung genötigt sah, bewies, dass die Schritte zur Umsetzung des Gesetzes über die erweiterte Armenpflege vom 11. Juli 1891 unzureichend waren. Die Provinzialverwaltung hatte beabsichtigt, die wachsende Zahl der Kranken in privaten Anstalten unterzubringen, um die Kosten niedrig zu halten und eine Kapazitätserweiterung der eigenen Anstalten zu vermeiden. Doch bei den privaten Anstalten mangelte es vor allem an der ärztlichen Versorgung. Die Provinzialanstalten selbst erwiesen sich in baulicher wie therapeutischer Sicht als veraltet.

altes schwarz/weiß Bild von einem Mann der einen Behälter hält
Essensausgabe
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Reformen werden beschlossen

Die Provinzialverwaltung gab den Widerstand gegen den Ausbau der Provinzialanstalten auf und setzte eine "Kommission zur Errichtung neuer Provinzialanstalten" ein. Sie schlug den Neubau einer und die umfassende Modernisierung aller bestehenden Anstalten vor. Zudem sollten die Anstalten in Merzig und Grafenberg um je 200 Plätze erweitert werden.
Für die Grafenberger Anstalt, die von allen Provinzialanstalten die höchste Aufnahmesteigerung zu verkraften hatte und 1895/96 eine durchschnittliche Belegungsziffer von 579 Personen aufwies, bot sich die Chance zu einer umfassenden Modernisierung in baulicher wie therapeutischer Sicht.

Neben dem Neubau von Häusern für die Kranken und Wohnungen für das Personal wurde die Infrastruktur den neuen Anforderungen angepasst. Dazu gehörte auch die Einführung der elektrischen Beleuchtung und der Telefonanlage.
Die alten Abteilungen wurde umgebaut, sodass auch hier die um 1880 aufgekommene sich ergänzenden Bett-, Wach- und Bäderbehandlung durchgeführt werden konnte. Zum Reformkonzept gehörte, dass alle neuen Häuser als offene Abteilungen konzipiert wurden. Die Öffnung machte sich auch im äußeren Bild bemerkbar. Die Fenstergitter wurden entfernt und die Gartenanlagen vergrößert.

ein schwarz/weiß Foto von einem offenen überdachten Gang mit Patient*innen in ihren Betten.
Liegehalle für Männer

Mit der steigenden Zahl der aufgenommenen Kranken - 1910 wurde mit 943 Kranken der Höchststand vor dem Ersten Weltkrieg erreicht – sollte auch die ärztliche und pflegerische Versorgung Schritt halten. 1896 hatte die Konferenz der Direktoren der Provinzial-Irrenanstalten beschlossen, für jeweils 100 Kranke einen Arzt vorzuhalten. 1901 arbeiteten immerhin acht Ärzte in Grafenberg. Dabei war es nicht leicht, Ärzte für den Anstaltsdienst in der Psychiatrie zu gewinnen. Die Anstalt lockte deshalb mit Dienstwohnungen, pensionsberechtigten Stellen und einem Weiterbildungsetat.

Der Provinzialverband als Träger der Anstalt versuchte schon 1895, die Qualität des Pflegepersonals zu heben und langfristig an die Anstalt zu binden. Ziel war auch, die Kranken vor einer rohen Behandlung zu schützen. Der neue Anspruch an die Angestellten wurde schon durch den Wechsel der Berufsbezeichnung deutlich, die Wärter*innen heißen jetzt Pfleger*innen. Das Gehalt wurde angehoben und nach einer fünfjährigen Dienstzeit bestand Anspruch auf eine Pension. Trotz der höheren Löhne wechselte das Personal häufig. Noch 1907 hatten 33,3 Prozent der Pfleger und 26,9 Prozent der Pflegerinnen weniger als ein halbes Jahr Diensterfahrung. Ein Grund zur Klage blieb die Arbeitszeit: So konnten Schichten 14 bis 16 Stunden dauern. Gewerkschaftsvertreter forderten deshalb bei den ersten Tarifverhandlungen 1919/1920 erfolgreich, den Acht-Stunden-Tag einzuführen. Allerdings betrug die reguläre Wochenarbeitszeit 56 Stunden!

altes schwarz/weiß Gruppenfoto von Soldaten im Festsaal
Festsaal diente Soldaten als Krankenzimmer

Der Erste Weltkrieg

Der Erste Weltkrieg stellte in mehrfacher Hinsicht eine Zäsur für die Anstalt dar. Innerhalb von zwei Tagen wurden drei Ärzte, 34 Pfleger und zwölf Dienstangestellte eingezogen. Insgesamt 45 der 74 Pfleger zogen 1914 in den Krieg. Dauerhafter Ersatz war schwer zu bekommen. Gleichzeitig musste auch Grafenberg verwundete und körperlich kranke Soldaten aufnehmen und stellte dafür 200 Betten zur Verfügung. Bis zum Frühjahr 1918 wurden 2.700 rein somatisch Kranke versorgt.

Für die Patient*innen hatte der Krieg katastrophale Folgen – nicht nur in Grafenberg, nicht nur im Rheinland. Die Zahl der Kranken nahm aufgrund des Hungers und seinen Folgen rapide ab. Betrug der Krankenstand 1914 in Grafenberg noch 816, waren es 1917 nur noch 652. Anzunehmen ist, dass eine mangelhafte Ernährung die Sterberate deutlich ansteigen ließ. Während des Ersten Weltkrieges war eine Verdoppelung bis Verdreifachung der Sterberaten in fast allen psychiatrischen Anstalten des Deutschen Reiches zu beobachten.
Heinz Faulstich schreibt hierzu: „Bei der Analyse der Hintergründe des Massensterbens in den psychiatrischen Anstalten während des Ersten Weltkrieges stellt sich heraus, daß dies kein isoliertes Phänomen, sondern Teil einer allgemeinen Hungersnot infolge der schlechten Ernährungspolitik und der alliierten "Hungerblockade" war. Neben bestimmten Bevölkerungsgruppen waren Insassen "totaler Institutionen", die sich keine zusätzlichen Nahrungsmittel beschaffen konnten, am stärksten von dem verbreiteten Mangel betroffen. Leiter und Träger der psychiatrischen Anstalten taten aber nur in Ausnahmefällen etwas, um die Not ihrer Patienten zu lindern – überwiegend scheint das Geschehen aus patriotischen Gründen in Kauf genommen worden zu sein." Zu prüfen bleibt, ob Grafenberg zu den Ausnahmen gehörte. Als sich die Ernährungslage nach dem Krieg entspannte, sank die Sterberate wieder.

Schwarz/weiß Portraitfoto von einem Mann mit Bart
Josef Peretti

Josef Peretti

Josef Peretti wurde am 24. Dezember 1852 in Bonn geboren. Nach dem Abitur studierte er in seiner Heimatstadt Medizin und trat am 1. April 1876 als Volontärarzt in die Irrenanstalt Siegburg ein. Nach der Schliessung der Siegburger Anstalt 1878 wechselte er an die neu gegründete Anstalt Andernach und wurde hier zum 2. Arzt befördert. 1887 wurde Peretti nach Bonn versetzt und im April 1891 als Direktor an die Anstalt Merzig abgeordnet. Hier blieb er, bis er am 28. Januar 1893 nach Grafenberg berufen wurde. 30 Jahre wirkte Peretti hier, bis er im März 1923 auf eigenen Wunsch hin in den Ruhestand trat.

Peretti übte großen Einfluss auf die Entwicklung des Irrenwesens aus. Er war als Berater der rheinischen Provinzialverwaltung tätig, lehrte an der Medizinischen Akademie in Düsseldorf und gehörte mehr als 28 Jahre der 1894 eingesetzten Besuchskommission für die privaten Irrenanstalten an.

Schwarz/weiß Bild von 2 Zugtieren und einem Feldarbeiter auf einem Feld
Feldarbeit um 1920

Die Gründung des Hilfsvereins für Geisteskranke in der Rheinprovinz ist dem Engagement Perettis zu verdanken. Dieser knüpfte an den von Pelman gegründeten Hilfsverein für Geisteskranke an, der seine Zuständigkeit jedoch auf den Regierungsbezirk Düsseldorf beschränkt hatte. Der Verein dankte es Peretti, in dem er ihn zum Ehrenvorsitzenden berief. Am 21. März 1927 starb Prof. Dr. Peretti.

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