Gründung und Anfangsjahre
1876 bis 1893
Lange herrschte die gesellschaftliche Einschätzung vor, "Irre" als schuldbehaftete, durch göttliche Fügung bestrafte Menschen zu sehen. Erst durch die wachsenden Erkenntnisse der körperlichen Ursachen psychischer Krankheiten änderte sich dies: Die "Irren" wurden als Kranke gesehen, die der Fürsorge und Behandlung bedürfen. In England setzte sich diese Erkenntnis früh durch und führte bereits 1751 auf Initiative des Arztes William Battie zur Gründung des St. Luke Hospitals in London. In Frankreich ermöglichten die politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen der Französischen Revolution die Entstehung der Psychiatrie. Als ihr Begründer gilt Philipp Pinel. In den von ihm reformierten Pariser Anstalten befreite er die "Irren" von den Gefängnisketten. In Deutschland entstanden nach 1805 eine Reihe von psychiatrischen Anstalten, die die Lage der Geisteskranken verbesserten.
In der Rheinprovinz wurde 1825 eine Anstalt in der ehemaligen Abtei in Siegburg eröffnet. Mit Dr. Maximilian Jacobi, der die Anstalt bis zu seinem Tod 1858 leitete, hatte man eine anerkannte Kraft als Direktor gewonnen. Die neue Einrichtung war als reine Heilanstalt konzipiert. Damit waren seit längerer Zeit Erkrankte, von Geburt oder früher Kindheit an "Blöd"- oder "Schwachsinnigkeit" leidende, Altersverwirrte und Epileptiker von der Aufnahme ausgeschlossen. Ausgerichtet war die Anstalt auf 200 Kranke. Als in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts im Durchschnitt 340 Kranke pro Jahr behandelt wurden, war die Anstalt zu eng geworden. Zudem war sie baulich in einem sehr schlechten Zustand, da notwendige Erneuerungen unterblieben waren. Besonders die Mängel in den hygienischen Verhältnissen verursachten häufig den Ausbruch von Typhus und Augenentzündungen.
Nachdem eine technische Kommission 1864 die Reparaturbedürftigkeit von Mauern, Dach, Balken, Fußböden, Fenstern und Heizungsvorrichtungen aufgezeigt hatte, entschloss sich der Provinziallandtag zur Neustrukturierung des rheinischen Irrenwesens. Die Denkschrift von Dr. Werner Nasse, dem damaligen Anstaltsdirektor, trug wesentlich dazu bei, dass eine dezentrale Versorgung angestrebt und die Unterscheidung von Heil- und Pflegeanstalten aufgehoben wurde. In jedem der fünf Regierungsbezirke sollte eine neue Anstalt für 200 beziehungsweise 300 Kranke entstehen. Die Anstalten sollten in einem Zuge geplant und in drei bis fünf Jahren errichtet werden. Neben Nasse wurden die Psychiater Heinrich Laehr und Ludwig Snell beauftragt, die Bauplanung und -ausführung zu begleiten. Zwei Millionen Taler stellte der 18. Provinziallandtag am 3. Dezember 1865 für den Bau zur Verfügung. Da die Regierung in Berlin die Pläne als viel zu ehrgeizig kritisierte, dauerte es Jahre, bis eine Einigung erzielt war. Nach der Auswahl geeigneter Baugrundstücke begannen 1869/70 die Bauvorbereitungen. Der große Zeitabstand zwischen Planung und Baubeginn führte dazu, dass manches, was als neu und mustergültig geplant war, bei der Fertigstellung schon wieder als überholt galt.
Die Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Grafenberg entsteht
Für den Regierungsbezirk Düsseldorf fiel die Wahl auf den Pudlerhof bei Gerresheim. Das hügelige, mit Wald umgebene 22 Hektar große Gelände, lag an der alten Landstraße nach Elberfeld und war eine Stunde Fußweg von Düsseldorf entfernt. Die isolierte, stadtferne Lage entsprach der damals vorherrschenden Auffassung, dass psychisch kranke Menschen aus ihrem bisherigen Lebenszusammenhang herausgelöst werden müssten und in einer schönen landschaftlichen Umgebung am ehesten gesunden. Das Terrain bei Grafenberg ließ keinen kompakten Gebäudekomplex zu, wie er bei anderen Provinzialanstalten gewählt wurde.
Statt dessen entstanden insgesamt 18 einzelne Häuser. Hierin sollten 300 Patient*innen samt Ärzt*innen, Verwalte*innen, Pflege- und Dienstpersonal leben. Männer und Frauen wurden getrennt untergebracht. Die Männer auf der rechten Seite, die Frauen auf der linken. Unfreiwillig wurde die Anstalt Grafenberg mit diesem "Pavillonsystem" zum Vorreiter einer Entwicklung, die sich erst dreißig Jahre später als allgemeine Norm in der Rheinprovinz durchsetzte. Die Häuser wurden durch gemauerte und überdachte Gänge oder Laubengänge miteinander verbunden. Nach außen war die gesamte Anlage von einer Mauer umgeben, nach innen öffneten sich für jedes Gebäude umschlossene Höfe oder Gärten. Zusammen mit den vergitterten Fenstern entsprach dies dem damals vorherrschenden Sicherheitsverständnis.
Innen wurde Grafenberg ausgesprochen großzügig gebaut. Alle Räume einer Abteilung sollten auf einer Ebene liegen. Sie gingen von einem großen Korridor ab, der zugleich als Wandelhalle und Aufenthaltsraum diente. Für jeden Kranken plante man zum Schlafen 24 Quadratmeter, zum Wohnen 15 Quadratmeter. Die Höhe der Räume lag bei über 4 Metern. Die Auslegung der Anstalt von 10.900 Quadratmeter Schlafraum für 300 Kranke dürfte von den ärztlichen Berater*innen bewusst weitsichtig eingefordert worden sein. Für Grafenberg waren 300.000 Mark für den Erwerb des Grundstückes und 1,2 Millionen Mark als Baukosten eingeplant worden. Als im Februar 1877 die Kapelle eingeweiht wurde, und dies das Ende der Bauarbeiten signalisierte, waren bereits 2.277.000 Mark verbraucht worden.
Die Anfangsjahre der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Grafenberg
Bereits im April 1876 hatte der erste Direktor der Anstalt, Carl Pelman, seinen Dienst angetreten. Als er nach Grafenberg kam, war die Anstalt noch lange nicht fertig. Es wurde in allen Ecken gebaut, gehämmert und gestrichen. Am 1. Juli desselben Jahres wurde die Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Grafenberg offiziell eröffnet und zwei Tage später trafen die ersten Patient*innen aus der Siegburger Anstalt ein. Bis zum Ende des Jahres 1876 hatte die Anstalt 223 Kranke aufgenommen und 46 entlassen. Kontinuierlich wuchs die Zahl der Patient*innen. Bereits 1879 hatte die Anstalt mit 400 Kranken das Plansoll um ein Drittel überschritten. Diese Entwicklung führte dazu, dass die Provinzialverwaltung das Einzugsgebiet Grafenbergs verkleinerte: 1882 wurden die linksrheinischen Kreise München-Gladbach, Grevenbroich und Kempen der Provinzialanstalt in Düren zugewiesen. Ab 1893 wurden die bergischen Kreise Lennep, Remscheid und Solingen zunächst durch die Anstalt in Bonn und später von Galkhausen (heute Langenfeld) versorgt.
Grafenberg sollte zwar in erster Linie den "Kurversuchen für heilbare Kranke" dienen, hielt aber als Heil- und Pflegeanstalt ein gewisses Kontingent an Betten für so genannte Pfleglinge (Langzeitkranke) vor. Die Patient*innen wurden vier Klassen zugeordnet: Die 1., 2. und 3. Klasse bildeten die »Pensionäre«, das heißt sie zahlten für ihren Aufenthalt in der Anstalt selbst. Die 4. Klasse stellte die Mehrzahl der Patient*innen. Die Kranken wurden deutlich nach ihrer sozialen Herkunft unterschieden.
Zu den Krankheitsformen bemerkte Pelman 1880, dass die Zahl der Unheilbaren, die anfangs etwa 33 Prozent der Aufnahmen ausmachten, bis 1879 bereits auf 20 Prozent gesunken war. Pelman gab den Prozentsatz der geheilten Patient*innen mit 40 Prozent an.
Pelman war ein Anhänger des so genannten non-restraint (kein Zwang). Diese Bewegung kam aus England und wurde in Deutschland seit Mitte des 19. Jahrhunderts diskutiert. Maßnahmen zur Behandlung der Kranken wie kalte Duschen oder Fixierungen am Zwangstuhl lehnte Pelman ab und kritisierte die vergitterten Fenster in Grafenberg. Seine Kranken sollten so viel Freiheit wie möglich erhalten.
Therapie durch Beschäftigung
Da es kaum Medikamente zur Behandlung psychischer Störungen gab und die Bettbehandlung sowie die Anwendung - warmer - Dauerbäder erst um die Jahrhundertwende in den rheinischen Provinzial-Heil- und Pflegeanstalten Einzug hielten, war die Beschäftigung der Kranken von großer therapeutischer Bedeutung. Sie galt als Hauptmittel zur Genesung, bei unheilbar Kranken stellte sie nach Pelmans Auffassung den einzigen Schutz vor dem gänzlichen Verfall dar. Etwa die Hälfte der Patient*innen ging einer Beschäftigung nach. Der Kauf eines 10 Hektar großen Geländes wirkte sich nicht nur auf die Beschäftigungsmöglichkeiten positiv aus. In der hier gegründeten Kolonie lebten die Kranken mit ihrem Hauspersonal in größerer Freiheit als in der Anstalt.
Die Arbeitsleistung der Patient*innen hatte auch wirtschaftliche Bedeutung. Ziel war es, die Anstalt unabhängig von öffentlichen Zuschüssen zu machen. Seit 1879 erhielten die Kranken für ihre Arbeit bei einem Acht-Stunden-Tag acht Pfennige als Vergütung. Der nur geringe Verdienst half Vergünstigungen zu finanzieren oder nach der Entlassung eine kleine Geldsumme mit nach Hause nehmen zu können. Seit Gründung der Anstalt war es eine der schwierigsten Aufgaben, ausreichend qualifiziertes Personal, vor allem Betreuungspersonal zu finden und zu halten. Die 29 Wärter*innen, die 1876 ihre Stellung in Grafenberg antraten, hatten sich Tag und Nacht um die Kranken zu kümmern. Sie mussten sogar den Schlafraum mit ihnen teilen. Sie halfen den Kranken beim Baden und Essen, räumten auf, putzten und befeuerten die Öfen. Der Lohn für diese schwierige Arbeit lag unter dem damaligen Durchschnittsverdienst von 500 bis 600 Mark. Ein einfacher Wärter verdiente 291 Mark, der Oberpfleger immerhin 900 Mark. Die Frauen erhielten etwa ein Drittel weniger. Diese Bedingungen lockten nur wenige. So verdingten sich Hausdiener*innen, Kutscher*innen, ehemalige Soldat*innen und Tagelöhne*innen als Wärter*innen.
Carl Pelman
Dreizehn Jahre leitete Carl Pelman als Direktor die Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Grafenberg und prägte damit ihr Bild entscheidend. Seine Zeitgenossen schilderten ihn als einen Menschen, der schon rein äußerlich aus der Menge hervorstach: Seine große, bis ins Alter ungebeugte Gestalt, sein mächtiger Schädel und sein langer weißer Bart. Carl Pelman wurde am 24. Januar 1838 in Bonn geboren. Hier studierte er Medizin und absolvierte 1860 einen Kursus in der Siegburger Irrenanstalt. Dieser erste Kontakt mit der Psychiatrie prägte seinen weiteren beruflichen Werdegang. Nach Staatsexamen und Promotion war er als Assistenzarzt in Siegburg tätig, wechselte 1862 an die Privatanstalt in Görlitz und kehrte zwei Jahre später als so genannter zweiter Arzt an die Siegburger Anstalt zurück. Im Juli 1871 übernahm Pelman die Leitung einer privaten Anstalt im elsässischen Stephansfeld. Seine nächste Herausforderung fand er fünf Jahre später in Grafenberg. In seinem Interesse lag es, den Kranken möglichst viel Freiheit einzuräumen. Für die freie Behandlung nahm Pelman auch manche Entweichung als zwangsläufige Entwicklung in Kauf und verteidigte sein Vorgehen gegenüber dem Provinzialverband.
Pelman beschränkte seine Sorge um die Patient*innen nicht auf die Dauer des Anstaltsaufenthalts. Um deren Schwierigkeiten beim Verlassen der Anstalt zu mindern und ihre Reintegrationschancen zu verbessern, gründete er einen Verein zur Unterstützung der Geisteskranken. Er nutzte seine gesellschaftlichen Talente ebenso wie sein fachliches Ansehen in der Düsseldorfer Gesellschaft, um manche Spende für diesen Verein zu erhalten.
Als Wilhelm Nasse starb, trat er im Mai 1889 dessen Nachfolge als Direktor der Bonner Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt an. Damit verbunden war die Ernennung zum Professor der Psychiatrie. Im Oktober 1904 ließ Pelman sich auf eigenen Wunsch in den Ruhestand versetzen. Er starb am 21. Dezember 1916.
Sein Nachfolger in Grafenberg, August Eickholt, wurde am 7. Januar 1852 in Düsseldorf geboren, studierte in Würzburg und Bonn Medizin. Nach dem Studium wurde er Assistenzarzt in der psychiatrischen Anstalt Illenau. Danach trat er in den Dienst des Provinzialverbandes und wechselte zur Siegburger Anstalt. 1876 wurde er 2. Arzt in der neugegründeten Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Merzig. Im Juli 1881 ging er als Oberarzt nach Grafenberg und wurde 1889 Nachfolger von Carl Pelman. Schon ein Jahr später, im April 1890, tauschte er mit Gottfried Jehn, Direktor in Merzig, die Stellung. Gottfried Jehn hatte seine berufliche Laufbahn ebenfalls in Siegburg begonnen und war 1876 2. Arzt in Grafenberg geworden. Im Juli 1881 wurde er zum Direktor der Provinzial- Heil- und Pflegeanstalt Merzig berufen. Als er im April 1890 nach Grafenberg zurückkehrte, verblieb ihm nur kurze Zeit. Am 22. Oktober 1890 starb Jehn an Tuberkulose. In dieser Situation übernahm Eickholt im Januar 1891 erneut die Leitung der Grafenberger Anstalt. Doch schon zwei Jahre später, am 15. Januar 1893, starb auch August Eickholt. Mit Josef Peretti erfuhr Grafenberg wieder Kontinuität. Er nahm sein Amt 1893 auf und leitete die Anstalt bis ins Jahr 1923.